Das 19. Jahrhundert steht für eine Vielzahl unterschiedlicher Entwicklungen in der Malerei. Während die malerische Formulierung in den Anfängen des Jahrhunderts noch mit tradierten Werten behaftet war, lösten sich diese im Zuge politischer Ereignisse und industriellen Entwicklungen immer weiter auf und erreichten gegen Ende des Jahrhunderts eine ganz neue Auffassung der Malerei, die sich vom naturalistischen Anspruch völlig freigesprochen hatte. Mit diesem Überdruss gehen viele grundlegende Veränderungen einher, die ihre Spuren in der Entwicklung der Malerei finden. Das 19. Jahrhundert war reich an Impulsen um Wegbereiter für spätere Strömungen hervorzubringen.
Vom Realismus über den Impressionismus, vom vorkubistischen Cézanne bis zum präexpressionistischen Van Gogh, war die Epoche von einer Tendenz hin zu einer Malerei geprägt, welche den Duktus und das Empfinden der Malerpersönlichkeit spüren lässt. Diese Entfernung von der reinen, detailgetreuen Gegenständlichkeit und der Wille, Gefühle bildnerisch zum Ausdruck zu bringen, führen direkt in die Abstraktion des 20. Jahrhunderts.
Die „Schule von Barbizon“ steht für eine Gruppe von Malern, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der französischen Landschaftsmalerei zu einer für damals revolutionären Auffassung gekommen waren. Als ihre Hauptvertreter werden immer wieder die Maler Millet und Rousseau genannt, dem man auch die Gründung dieser Schule zuschreibt. Im engen Zusammenhang mit beiden Malern taucht aber auch immer wieder der Name Camille Corot auf. Er selbst hat sich jedoch nie dieser Künstlergruppe zugehörig gefühlt.
Einige dieser Maler der Barbizonschule blieben in der holländischen Tradition behaftet, während andere von den englischen Vorbildern wie William Turner oder John Constable (Romantik) beeinflusst waren, die wiederum Einfluss auf den Realismus Corots nahmen.
Unter der Bezeichnung „Schule von Barbizon“ verstehen wir eine Gruppe von Malern, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts (1840-1870) im Dorf Barbizon, etwa 50 km südöstlich von Paris, am Rand des heute noch zirka 17.000 ha großen Waldes von Fontainebleau lebte und dort aus unmittelbarem Erleben der Natur zu einer damals revolutionären Auffassung von Landschaftsmalerei gelangte. Der Wald ist berühmt für seine mächtigen alten Eichen und pittoresken Felsen. Die Schule von Barbizon gilt als Wegbereiter des späteren Impressionismus. Ihr Hauptvertreter, Théodore Rousseau, führte die bis dahin im wesentlichen von der Romantik geprägte Landschaftsmalerei hin zu einer realistischeren Auffassung, in der es nicht mehr nur um die Vermittlung einer 'Stimmung', sondern um das künstlerische Erleben und die naturgetreue Wiedergabe der Landschaft ging. Die mit dem französischen Terminus auch als "Paysage intime" (intime Landschaft) bezeichneten Bilder sind betont unaufdringliche, schlicht gehaltene Landschaftsdarstellungen.
Diese Künstlerkolonie hatte, was ihre einzelnen Mitglieder betraf, durchaus unterschiedliche Zielsetzungen. Der Begriff „Schule“ trifft insofern gar nicht so recht auf sie zu. Gemeinsame Absicht aller war jedoch die Abwendung vom Klassizismus und der Wunsch, in ihrer Malerei zu einer realistischen Naturdarstellung zu finden. Sie begannen dem ‚wahren’ Charakter der Landschaft nachzuspüren. Daher sind die Techniken der Maler auch ganz verschieden. Das Spektrum reicht von leichten, weichen Pinselstrichen bei Corot bis zum reliefartigen Impasto bei Dupré.
Zwei Pleinairmaler, die oft mit Barbizon genannt werden, gehören eigentlich nicht in diesen Kreis. Das wären Camille Corot, der bereits 1830 in Fontainebleau gemalt hatte und sich um 1846 immer wieder kurz in Barbizon aufhielt, im Grunde aber den Süden bevorzugte. Zum anderen Jean-François Millet, der zwar von 1849 bis zu seinem Tod in Barbizon lebte, und sozusagen ihr Hauptmeister ist. Allerdings versuchte er mit seiner sozial betonten Realistik doch mehr den Menschen als die Naturlandschaft darzustellen.
Der vom lat. "realis" (die Sache betreffend) abgeleitete Begriff "Realismus" meint zunächst keine künstlerische Einstellung, die sich mit der sichtbaren und tastbaren Erscheinung der Wirklichkeit, den "realen" Dingen, auseinandersetzt und diese ungeschönt darstellt. Als Begriff für die Stilphase in der Kunst des 19. Jahrhunderts wurde das Wort "Realismus" 1855 erstmals von dem französischen Maler Gustave Courbet (1819 - 77) in seinem Ausstellungspavillon auf der Pariser Weltausstellung verwendet.
Der Realismus ist eine Gestaltungsweise in der Malerei, deren Ergebnis ein Abbild der sichtbaren Wirklichkeit ist. Darüber hinaus kann die realistische Darstellung zugleich Deutung und Wertung des abzubildenden Sujets beinhalten. Dies ist der bedeutende Unterschied zum Naturalismus, der hinsichtlich der Stofflichkeit auf die naturgetreue und objektive Wiedergabe des Bildmotivs hinzielt.
Gustave Courbet
Die Steinklopfer
Öl auf Leinwand, 1849
Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Die_Steineklopfer.jpg
Der französischen Juli-Revolution von 1830 folgte die Juli-Monarchie, das Bürgerkönigtum, und zunehmende Industrialisierung setzte ein. Die wirkliche Staatsmacht befand sich in den Händen derjenigen, die durch diese industrielle Umwälzung sozial aufstiegen – in den Händen der Finanzaristokratie, der Besitzer von Kohlegruben und Erzbergwerken. Unzufriedenheit verbreitete sich im französischen Proletariat und erweiterte sich auf andere große Teile der Bevölkerung. Im Februar 1848 brach die bürgerlich-demokratische Revolution aus, die die Monarchie stürzte und die Republik ausrief.
Die Beteiligung aller demokratischen Kräfte an diesem gesellschaftlichen Umbruch führte zu einem großen Aufschwung des Realismus in Kunst und Literatur. Wie Balzac in seinen Romanen versuchten auch Maler, diese neue Realität in ihrem Werk darzustellen. Das Proletariat entwickelte sich zu einem sehr realen Gegenstand in der Kunst. Vom Kapitalismus erzeugt und gewachsen, wurde die Arbeiterklasse rücksichtslos ausgebeutet und begehrte dagegen auf. In Lyon kam es 1831 und 1834 zu Aufständen, die ganz Frankreich erschütterten und zum Erstarken der sozialistischen Bewegung führten. Das Leben des Proletariats weckte zunehmend das Interesse vieler Künstler. Die Arbeiterklasse, die um ihr Überleben kämpfte, hatte im 19. Jahrhundert kaum eigene bildende Kunst. Bürgerliche Maler stellten Arbeiter bestenfalls mitleidsvoll und sentimental dar. Nur die bedeutendsten Realisten, die wirklich volksverbundenen Künstler wie Courbet erkannten die Macht dieser neuen Klasse bereits im 19. Jahrhundert.
Gustave Courbet, vor 200 Jahren am 10. Juni 1819 geboren, forderte programmatisch die objektive Darstellung der Realität, bedingungslose Wahrheit. 1851 stellte er im Salon, der großen jährlichen Kunstausstellung in Paris, zwei Gemälde aus, die die Kunst revolutionieren sollten. Es waren die Gemälde „Die Steinklopfer“ und „Beerdigung in Ornans“. Niemand vor ihm hatte Arbeiter so mächtig und ehrlich gezeigt. Niemand vor ihm hatte die Gesichter der Bauern so realistisch dargestellt. Niemand vor ihm hatte die gewöhnlichen Menschen so groß dargestellt, zu einer Zeit, als die Genremalerei klein- und die Historienmalerei großformatig war. Courbet malt Geschichte im neuen Sinne des Wortes.
Courbets Kunst schockierte die bürgerlichen Betrachter. Einige waren begeistert, doch die meisten waren empört. Courbet glaubte jedoch fest an die historische Bedeutung seines Realismus. In der Ausstellung von 1855 stellte er seine Gemälde in einer improvisierten Holzhütte aus. Über der Eingangstür stand „Realismus, G. Courbet“. Der Katalog seiner ausgestellten Gemälde war ein künstlerisches Programm, das der Realität verpflichtet war. Diese Ausstellung machte Courbet berühmt. Er sagte, „die Sitten, die Gedanken, den Aspekt meiner Epoche meiner Auffassung gemäß wiederzugeben, … lebendige Kunst zu schaffen, das ist mein Ziel.“
Das Gemälde „Die Steinklopfer“ war eine Offenbarung. Kritiker warfen ihm sozialistische Propaganda vor. Courbet stand jedoch stolz zu seiner Arbeit. Im Katalog der Ausstellung von 1855 schrieb er: „Der Titel Realist wurde mir gegeben, so wie die Maler von 1830 als Romantiker bezeichnet wurden.“ Seine Ausssage „Realismus ist im Wesentlichen demokratische Kunst“ traf zutiefst auf Courbet zu. Er war der große Demokrat der Malerei und wurde zum Führer der realistischen Bewegung.
Courbet malte „Die Steinklopfer“ 1849 in seiner Heimat Ornans in Ostfrankreich. Er war 30 Jahre alt. Marx und Engels hatten im vorangegangenen Jahr das „Kommunistische Manifest“ veröffentlicht, dessen Anfang verkündet „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“ und „Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat“. Dies ist die maßgebende Erkenntnis der Mitte des 19. Jahrhunderts.
„Die Steinklopfer“ stellt zwei Straßenarbeiter fast in Lebensgröße dar: Das Bild misst 170 cm × 240 cm. Die Arbeiter nehmen den größten Teil des Bildes ein; sie sind die zentralen Figuren. Nach den gerade vorausgegangenen Arbeiteraufständen von 1848 war Courbets Blick auf das einfache Volk radikal. Dieses Bild von zwei Männern, von denen der eine erst am Anfang eines Lebens härtester Mühsal beginnt und der andere dessen Ende zugeht, drückt unerbittliche Härte aus. Trotz ihrer mühsamen Arbeit existieren diese Männer von einem Minimum. Ihre Kleidung ist stark zerrissen und geflickt. Die Farben, in denen sie gemalt sind, passen zu ihrem Arbeitsplatz – es dominieren Grautöne, gebleichtes Blau, erdiges Weiß und Braun. Grobe Pinselstriche erfassen die derbe Kleidung und ihre Umgebung und übersetzen sie in greifbare Realität. Das Bild wird nicht durch eine „polierte“ Oberfläche verschönert, wie es zu Courbets Zeiten die malerische Norm gewesen wäre. Dies ist ein radikaler Neuanfang in Gegenstand und Form.
Auffallend ist die rot gestreifte Weste des älteren Mannes in der Bildmitte. Es ist nicht nur ein Audruck von Würde, sondern deutet auch auf die Farbe der Arbeiterklasse. Mehr noch: die Kombination von rot gestreifter Weste, weißem Hemd und blauen Socken verweisen subtil die Farben der Trikolore, der französischen Fahne, wie sie die Revolution von 1789 hervorbrachte. Diese Farben standen einst für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Was bedeuten sie 60 Jahre später? Die verblichenen und zerfetzten Farben sind zweifellos eine bewusste Ironie von Courbet, zumal der ältere Mann sie trägt, der Courbet zufolge etwa 70 Jahre alt ist. Courbets Großvater war 1789 ein Sansculotte.
Die beiden Figuren treten scharf gegen einen dunklen Hintergrund hervor und werfen selbst Schatten, die fast mit denen des Hügels verschmelzen. Es ist Nachmittag. Nur in der oberen rechten Bildecke gibt es ein Stück blauen Himmels. Der Getreidestand deutet auf frühen Sommer, ebenso wie die Hitze der prallen Sonne. Ein großer Topf und ein einzelner Löffel direkt neben ihrem Arbeitsplatz verraten, dass sich das ganze Leben dieser Menschen um Arbeit dreht und vermitteln den Eindruck, dass die beiden verwandt sind. Sie essen am Straßenrand, es gibt keine Privatspäre.
Wir können die Gesichter der Männer nicht erkennen. Das Gesicht des älteren Mannes ist im Profil, aber nur der untere Teil davon ist unter dem schattenwerfenden Strohhut sichtbar. Der jüngere Mann, der die zerbrochenen Steine trägt, dreht sich mit dem Rücken zum Betrachter. Indem Courbet die Gesichter nicht deutlich zeigt, richtet er den Blick auf die Arbeit und ihre Bedingungen; er vermittelt nicht Mitleid, sondern Einsicht, in fast Brechtscher Entindividualisierung, die unreflektierte emotionale Anteilnahme verhindert.
In „Die Steinklopfer“ fallen die starken Hände des älteren Mannes auf. Genau diese kraftvolle und sich wiederholende Bewegung, sein weniger flüssiges, fast mechanisiertes Aussehen, suggeriert eine Maschine und Arbeiter als Maschinen. Trotz seines Alters strahlt er Energie und Zielstrebigkeit aus. Er ist eine Kraft, mit der man rechnen muss. Vermittelt wird ein großes Gefühl von Würde.
Der jüngere Mann scheint unter dem Gewicht des Steins sehr zu kämpfen. Er ist in seinen Bewegungen noch nicht so sehr mechanisiert. Seine Kleidung ist noch zerlumpter, seine staubigen Schuhe sind zerfetzt. Beide Figuren besitzen jedoch eine mächtige physische Präsenz, die durch die auf sie scheinende Sonne erzeugt wird und wie das Licht um ihre Körper fließt.
Diese beiden Männer veranschaulichen die lebenslange Mühsal der Arbeiterklasse und ihre Lage. Ihre Anonymität ermöglicht Verallgemeinerung ohne Sentimentalität und Idealisierung. Der Künstler vermittelt seine Sympathie für die Arbeiter, ihre Würde und seine Abscheu für ein System, das von derartiger Armut und Ausbeutung lebt. Gustave Courbet war einer der ersten Maler, die das Leben der Arbeiter zum Gegenstand der realistischen Kunst machten.